Die Gitarre in ihrer heutigen Form und Stimmung ist seit dem Biedermeier zu einem beliebten Volksinstrument geworden. Nicht nur als Begleitung mit Bass und Nachschlägen wurde ihr anvertraut, sondern von Beginn an auch - einerseits als Erbe der damals bereits erloschenen Lautentradition - andererseits der beliebten und erfolgreichen Gitarre-Literatur mancher Biedermeier-Komponisten (Carulli, Kreutzer, Diabelli, ...) - das melodische Spiel als Solo-Instrument.
Diese Absicht spricht auch aus der vorliegenden anonymen "Guitarre-Schule", von der sich im Jahr 1857, datiert mit 1.11., offenbar Anna Zachhuber eine handschriftliche Kopie erstellt hat. Bei einer Feldforschungswoche des OÖ. Volksliedwerkes im Ennstal im Feber 1996 wurde sie uns übermittelt und wird nun - zehn Jahre später - der musikalischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Auffallend ist zuerst einmal der sehr direkte Einstieg in praxisbezogene Tanzmusik: Schon das vierte Stück ist ein "Walzer", gleich drauf folgt ein "Geschwind Walzer"! -
Mit Ausnahme der letzten Nummern beschränkt sich die ganze Schule auf die 1. Lage der Gitarre und entwickelt von Tonart zu Tonart fortschreitend nach kurzen Vorübungen aus den Grundgriffen heraus eine Fülle von Tanzstücken: Ländler, Walzer, Eccossaisen (=Schottische) sowie Rondos. Bei den letzten Nummern für zwei Gitarren sind die Rollen verteilt: Die 1. Gitarre spielt die Melodie mit Kapotaster (4. Position), die 2. Gitarre begleitet.
Auch wenn sich die gitarristische Didaktik mittlerweile weiter entwickelt haben mag, so bietet dieses Heft doch einen interessanten Einblick in die musikalischen Bedürfnisse einer ländlich-bürgerlichen Laien- und Hausmusikantin in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Und vor allem bietet es eine schöne Auswahl leicht zugänglicher rasch erlernbarer Stücke zum Dazu-Tanzen und (Vor-)Spielen zum eigenen Vergnügen.
Volker Derschmidt, Gunskirchen 2006
